Blaue Sonne - Roter Tod: Teil 7
Auf der Damentoilette der Wurstgott-Filiale in der Abflugsektion verwandelte sich Stella Lake in die etwas mollige Blondine Agatha Stark, während ihre alten Ausweispapiere bereits durch die Abflussrohre der Wiederaufbereitungsanlage entgegenströmten. Der Catsuit war in einem Wartungsschacht versteckt, dessen simples Computerschloss keine Herausforderung für sie dargestellt hatte. Kurze Zeit später buchte sie ein einfaches Ticket nach Suicide und betrat die Lounge, wo sie sich an einem öffentlichen Terminal eine Zeitungsdatei herunterlud, um die Leistungsfähigkeit ihrer ID-Karte zu testen, die sie auf Hell´s Kitchen erworben, aber bisher noch nicht benutzt hatte. Zufrieden nickend verließ sie nach einer Weile das Terminal, setzte sich zwischen die übrigen Reisenden und betrachtete sie. Der Flug würde einen ganzen Tag dauern und sie konnte nach einem Raumsprung niemals sicher sein, in welchen Intervallen der Durst einsetzen würde.
Chief Captain Heller saß bereits seit ein paar Stunden in der Sicherheitszentrale, um die Daten auszuwerten, die im Verlauf der Ermittlungen angefallen waren. Der Fall wurde zunehmend skurriler. Die große Unbekannte – denn Heller zweifelte keine Sekunde daran, dass Stella Lake nicht ihr richtiger Name war – interessierte ihn aus mehreren Gründen.
Zunächst ihre Ausrüstung. Ein Schwert, innerhalb des Schutzgürtels nicht gerade eine gewöhnliche Waffe, aber in Retro-Kreisen mitunter anzutreffen, mochte er für eine Bürgerin des Imperiums gerade noch durchgehen lassen. Weitaus ungewöhnlicher war die Tatsache, dass sie eine P 50 im Waffenschrank der Floyd hinterlegt hatte, die natürlich nicht mehr dort war, als man das Schiff durchsuchte. Die P 50 war das brutalste und durchschlagendste, was im Bereich Automatikpistolen zur Zeit erhältlich war – erhältlich freilich nicht für jedermann, da es sich um eine dem Militär vorbehaltene Waffe handelte, deren Besitz Zivilisten streng verboten war. Heller hatte einmal im Schießstand damit geübt, und der Rückstoß hatte ihm fast den Arm abgerissen. Kenner schworen, dass man damit sogar einen heranrollenden Panzer zum Stehen bringen könne.
Dann konnte sich niemand erklären, wie sie überhaupt von Bord gekommen war. Das gesamte Schiff war Zentimeter für Zentimeter untersucht und nachgemessen worden. Niclas hatte bereitwillig alle Schmuggelfächer geöffnet. Was dort zutage getreten war, würde ihm ein paar weitere Jahre Strafplanet einbringen, ergab jedoch keinerlei Hinweise auf den Aufenthaltsort der Gesuchten. Heller hatte sie inzwischen zur Fahndung ausschreiben lassen, auf das Phantombild, das nach den Angaben der Crew der Floyd angefertigt worden war, hatte sich jedoch noch niemand gemeldet.
Und genau das war der dritte und vielleicht seltsamste Punkt an der ganzen Angelegenheit. Experten hatten sich jede Nanosekunde Filmmaterial angesehen, das die Kameras der Floyd in den letzten Wochen aufgezeichnet hatten. Auf keinem war die Unbekannte zu sehen. Statt dessen zeigten die Abspielgeräte an ihrer Stelle einen milchigen Nebel, der grob die Formen einer Frau hatte. Das einzige greifbare waren einige Stimmaufzeichnungen.
Heller schüttelte entnervt den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, woher jemand, der sich vor Verhängung der Quarantäne von einem Frachter absetzen musste, die Zeit nehmen könnte, um sämtliche Aufzeichnungen über seine Person solcherart zu sabotieren. Für die Dame, der das Kriegshandwerk nach den Beschreibungen der Crew zu schließen so vertraut war, wäre es ein leichtes gewesen, die zentralen Datenspeicher der Floyd zu löschen. Offenbar wusste Sie aber, dass sie nicht aufgezeichnet werden konnte. Wahrscheinlich irgendeine ausgefuchste technische Neuentwicklung aus Silicon City, eine Art Kraftfeld zur optischen Verschleierung.
Schließlich die drei Toten. Doc Buehler hatte den Kratzer am Arm des Lademeisters analysiert und festgestellt, dass er von einem Fingernagel herrührte. Der genetische Fingerabdruck, den der Med-Tech erstellt hatte, war ein weiteres Puzzlestück, denn er hatte zum einen keine Übereinstimmung mit den Datenbanken der TSU und der Einwanderungsbehörde ergeben, und zum Anderen behauptete Buehler steif und fest, der Nagelrest, den er der Wunde entnommen hatte, stamme von einer mindestens drei Tage alten Leiche. Welche Wahnsinnige würde wohl auf die Idee kommen, einem Toten die Nägel zu entfernen, um sie sich an die eigenen Finger zu kleben?
Nahm er nun alle diese Punkte zusammen, so ergab sich für den Chief das Bild einer brandgefährlichen Serienmörderin von ca. dreißig Jahren mit einem Blut- und Todesfetisch, die über die neueste technische Ausstattung verfügte und von optischen Überwachungssystemen nicht wahrgenommen werden konnte, die darüber hinaus bis an die Zähne bewaffnet war, höchstwahrscheinlich einer geheimen Eliteeinheit einer freien Kolonie entstammte und die mit unbekannter Mission nach Suicide unterwegs war. Oder sie war gar kein Mensch, sondern ein Andro oder eine Replikantin und demzufolge ein Werkzeug der Rebellen! Heller lief eine Gänsehaut über den Rücken und er begann sich zu fragen, ob das ganze nicht doch eine Nummer zu groß für ihn war. Vorsichtshalber versetze er das gesamte Sicherheitspersonal in Alarmbereitschaft und schickte Warnungen an sämtliche Raum- und Bodenstationen des Sonnensystems.