Schreiers Freunde
Es war ein klassischer Mord, so klassisch wie aus dem Lehrbuch. Man nehme eine hochschwangere, mutierte Tse-Tse Fliege (Sie wissen schon, ein illegaler Import aus der verbotenen Zone). Die Fliege wird so lange in einem Glas gefangen gehalten, bis sie ihre Eier kaum noch halten kann. Just bevor das Mistvieh jämmerlich verreckt, lässt man sie im Schlafzimmer des Opfers frei. Sie können sich gar nicht vorstellen, was eine Gamma-Mutation so alles anrichtet. Sobald die erste Person das Zimmer betritt, stürzt sich die Fliege verzweifelt auf sie, denn sie weiss genau, dass sie ihre Eier in einem lebenden Organismus ablegen muss, damit diese in den Blutkreislauf gelangen. Leider benötigen die Larven später Leichengift, um sich entwickeln zu können. Einige nette, kleine Details, wie die Tatsache, dass Schmerzhormone das Wachstum fördern, sorgen dafür, dass eine halbe Stunde nach der Eiablage ein Gift zu wirken beginnt, das Qualen verursacht, im Vergleich zu denen eine Nacht in der Hölle wie ein Ausflug ins Paradies wirkt.
Rex Schreier, LEP-Abgeordneter für die Rhein-Main-Stadtmetropole, hatte keinen leichten Tod. Wir fanden seine Leiche unter der Druckdusche, wo er so lange mit dem Kopf gegen die Wand gerannt war, bis seine Schädeldecke aufplatzte. Das Gehirn quoll wie ein eitriges Geschwür über den Boden. Steffi übergab sich kurz, aber heftig. Selbst Selim, unser hartgesottener Ex-Bulle, wurde weiss wie frischgefallener Schnee. Ich selbst habe während meiner Zeit im Orden weitaus schlimmeres gesehen. Als Plasmakanonier beim schweren Kampfbataillon “Totenorgel” macht man einiges mit. Ein Grund dafür, warum ich schon mit 35 pensioniert worden bin und jetzt meinen Lebensunterhalt als freier Ermittler bestreite. Die Gattin des Verblichenen, selbst Politikerin, hatte den Mord nicht an die Behörden gemeldet, sondern mit Hilfe eines korrupten Med-Tech einen Selbstmord vorgetäuscht. Über die Gründe hat sie sich uns gegenüber nicht weiter ausgelassen, ich nehme an, dass sich bei genaueren Ermittlungen im Hause Schreier einiges an Schmutzwäsche zutage fördern ließe. Also sind wir, die “Bornheim Freelance Agency”, beauftragt worden, den Täter zu fangen, damit die Lady Rache üben kann. Nicht ganz legal, aber lukrativ. Immerhin habe ich die Witwe Schreier auf eine Gage von 200 EH hochgereizt.
Die Ermittlungen führten uns in ein übles Ghetto im Bezirk Frankfurt, das - wahrscheinlich in Anlehnung an längst vergangenen Glanz - als “Messeviertel” bezeichnet wird. Nachdem wir drei Stunden durch Trümmer, Scheiße und krepierende Pseudomorphinfixer gestiegen waren, erreichten wir das Plaza, eine üble Kaschemme, in der wir unseren Informanten “Stechel” treffen sollten. Wir fanden Stechel in einem dunklen Hinterzimmer; den Weg dahin mußten wir uns durch eine Menge üblen Gezüchts bahnen, wobei Steffi von einem stockbesoffenen Kolonistenschwein so übel angebaggert wurde, dass Selim ihm seinen Vibroschlagring in die Fresse dreschen musste. Unser Nesthäkchen konnte zwar ganz gut auf sich selbst aufpassen, wurde aber in größeren Menschenmengen leicht hysterisch.
Es kostete uns fünf synthetische Johnny Walkers, bis Stechel langsam zu reden begann. Er faselte seltsames Zeug über unheimliche Gesänge, schaurige Gestalten und fremdartige Lichterscheinungen, mit denen Schreier angeblich zu tun gehabt hätte. Gegen eine Bezahlung, die unsere Auftragsmarge fast verschwinden ließ, erklärte er sich bereit, uns zu einer Stelle zu führen, an der er und seine Spitzel schon mehrmals Schreiers seltsame Geschäftspartner hatten verschwinden sehen.
“Vielleicht ein Nuke-Nest?” mutmaßte Steffi.
“Mitten in der Metropole? Da wüßte der InSic was davon!” erwiderte Selim lachend und knutschte sie kurz. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Freund lachen sah.
Wir folgten Stechel zum antiken Hauptbahnhof und legten uns am halbverschütteten Eingang zu den längst verfallenen U-Bahn-Tunneln auf die Lauer. Das ganze Gebiet hier war von der Bausicherheit gesperrt, wir befanden uns also auf illegalem Boden, was uns leicht unsere Lizenz kosten konnte. Nach etwa zwei Stunden vernahmen wir ein seltsames Geräusch, das entfernt an Gesang erinnerte. Aus einem Loch im Boden drang ein grelles Leuchten, das mir einen stechenden Schmerz in meinem Magengeschwür verursachte. Die ohnehin schlechte Luft stank plötzlich nach Schwefel.
“Es tritt auf: Satan, Herr der Hölle!” witzelte Steffi neben mir. Ich brachte sie mit einem schnellen Hieb in die Rippen zum Schweigen, wobei ich mir zwei Finger an ihrer verschissenen Kampfkombi verstauchte.
Schweigend entsicherten wir unsere Waffen, Selim und ich einen Stunner und Steffi ihren Betäubungsnadler. Wir brauchten ja ein lebendes Opfer für Frau Schreiers Rache. Dann sahen wir das Wesen aus dem Schacht klettern. Ich weiss nicht, ob das Licht mich blendete oder meine Erinnerung sich getrübt hat, und Selim hat seit damals nichts mehr gesprochen. Ich kann nur sagen, dass es so groß war wie ein Schimpanse aus der naturhistorischen Abteilung des Museums und auch genauso gebückt lief, wobei ich den Eindruck hatte, es trüge eine Art Flügel auf dem Rücken. Steffi verschluckte sich fast an ihrer Kippe und Selim klappte der Kiefer unkontrolliert nach unten. Wir verpassten also die Gelegenheit zu handeln, und das Wesen verschwand zwischen den Trümmern. Unser Nesthäkchen fand als erste die Sprache wieder:
“Kommt, das schauen wir uns an. Wenn das ein Stützpunkt außerirdischer Invasoren ist...”
“Hör auf zu spinnen, Kleines. Du weißt, daß es außer uns nur niedere Lebensformen gibt!” konterte Selim, der inzwischen seinen Schock überwunden hatte. “Das hat Allah so gewollt und der Imam hat es bestätigt.”
“Lass mich bloß mit deinem religiös-antiquierten Scheißdreck zufrieden!” bellte Steffi. “Los, besorgt mir ein Seil, ich sehe mich da unten um.”
Die Diskussion dauerte noch etwa fünf Minuten, bis ich dazwischenging und Steffis Partei ergriff. Selim gab murrend nach. Wir überprüften die Umgebung mit dem Motion-Scanner, fanden aber nichts größeres als Wühlmäuse. Schließlich ließ Selim Steffi mit einer 200 m-Seilwinde, die wir zwischenzeitlich von Stechel hatten holen lassen, in das mittlerweile dunkle Loch hinab, aus dem es infernalisch stank. Sie zog eine Filtermaske auf und wechselte ihren Nadler gegen eine Automatikpistole aus. Ich legte mich in den Trümmern auf die Lauer und deckte die Umgebung mit meiner „Sargnagel“ ab. Etwa drei Minuten später funkte Steffi nach oben, sie sei jetzt bestimmt fünfzig Meter tief und habe noch immer keinen Boden unter den Füßen. Selim bestätigte, er habe schon zweiundfünfzig Meter von der Seilspule abgelassen. Nach weiteren 35 Metern meldete unsere Kleine ein Flackern und Leuchten von unten her, sowie seltsame Geräusche, “als würde ein Sack voll Schleim über einen Teppich gezogen”. Selim forderte sie auf, umzukehren, aber sie lachte nur und verlangte mehr Seil. Steffi war in ihrem Element (sie hatte ihre Kampfausbildung bei einer Pioniereinheit des SEK absolviert).
Ich will versuchen, die letzten Minuten authentisch wiederzugeben, obwohl ich mit ihren Worten nichts anfangen kann. Selim schweigt und wird wohl für immer schweigen. Ich kann nicht sagen, ob er Steffi auf dem Gewissen hat. Sein Gott allein kann wissen, ob sich mein Freund im Jenseits rechtfertigen werden muss.
“Hier sind auf einmal Gebeine in der Schachtwand. Sie sind... menschlich! Ein Schädel, aber seltsam deformiert und von einer Art Glasur überzogen. Sie singen jetzt wieder, kann es nicht genau beschreiben, klingt wie... mein Gott, das muss alles unheimlich alt sein. Eine Halle mit Säulen und... Knochen, oh Gott, überall Knochen. SIE kommen... alt, so alt. Haben auf uns gewartet, oh mein GOTT! Ein Wesen... IÄH, IÄH, SHAB NAGGHAT, VERSCHWINDE! VERSCHWINDE AUS MEINEM KOPF...”
Ein grausiger Schrei folgte diesen sinnlosen Worten. Wimmernd und in fliegender Hast aktivierte Selim die Seilwinde. In diesem Moment erschien das Schimpansenwesen am Eingang der Bahnhofshalle, und ich schoss so lange, bis es, wie ein Schwein quiekend, verschwand. Als ich mich umwandte, schaute Selim nach unten in den Schacht.
“Steffi! Oh Allah! SIE IST KEIN MENSCH MEHR!”
Er entleerte das Magazin seiner Automagnum in den Schacht und warf noch eine Sprenggranate hinterher.
“BLOSS WEG HIER!” kreischte mein Freund. Seine Panik wirkte überzeugend und ansteckend, und so flüchteten wir bis in unser Büro, ohne uns auch nur einmal umzudrehen. Selim sprach kein Wort, aber seine Augen waren trüb und sein kurz zuvor noch schwarzglänzendes Haar stumpf und grau. Ich legte mich in meine Koje, aber ich fand erst nach einem Cocktail aus Valium, Aspirin und Pseudo-Martini Schlaf. Als ich erwachte, war Selim verschwunden, mit ihm unser gesamter Vorrat an illegalem Sprengstoff. Zwei Stunden später kehrte er zurück. Seine Kleidung war schmutzig und zerrissen, sein Haar voller Staub. Und Steffi? Ich weiß es nicht...